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Arm Trotz Arbeit – Warum Mindestlöhne Durch Existenzlöhne Ersetzt Werden Sollten

Sophie Mayer

Seit dem 1. Januar 2015 erhält in Deutschland (fast) jeder Arbeitnehmer einen Stundenlohn von 8,50 Euro. Dieser Mindestlohn (minimum wage) steht für das kleinstmögliche Arbeitsentgelt, das rechtlich erlaubt ist. Ein „Mindest-Lohn“ eben. Die Höhe wird im Normalfall durch eine gesetzliche Regelung festgelegt. Auch in vielen anderen Staaten, darunter viele Produktionsländer der Bekleidungsindustrie, gibt es einen solchen gesetzlichen Standard.
Das Problem des Mindestlohns: Er richtet sich zumeist nicht nach der Höhe, die notwendig wäre, um die anfallenden Lebenshaltungskosten zu decken.

Der Existenzlohn – Basis für ein Leben in Würde

Im Gegensatz zum Mindestlohn orientiert sich die Höhe eines sogenannten Existenzlohns (living wage) an den Ausgaben, die tatsächlich notwendig sind, um die Lebensgrundlage der eigenen Familie und von sich selbst zu sichern.
Folgt man der Definition der Clean Clothes Campaign, bildet dabei eine reguläre 48-Stunden-Woche den Bezugspunkt. Das innerhalb dieses Zeitraums verdiente Geld muss ausreichen, um Arbeitnehmern eine angemessene Ernährung, Unterkunft, Bekleidung sowie Mobilität zu ermöglichen. Weiterhin zählen auch Bildung, medizinische Versorgung sowie ein kleines Budget für unerwartete Notfälle zu den Grundbedürfnissen, deren Abdeckung durch den existenzsichernden Lohn gesichert sein muss.
Die genaue Gehaltshöhe, die es für ein würdiges Leben braucht, ist allerdings relativ und unterscheidet sich von Land zu Land. Die Clean Clothes Campaign (CCC) fordert einen Nettogrundlohn (ohne Überstunden und Zuschläge) von mindestens 60% des nationalen Durchschnittslohns. Dieser Grundlohn entspricht jedoch noch nicht zwangsweise dem des Existenzlohns, bietet aber einen ersten Orientierungspunkt.
In Deutschland würde das einen Bruttolohn von 10,68 Euro die Stunde bedeuten. Der aktuelle Mindestlohn liegt folglich mehr als 2 Euro unter dieser Empfehlung.
Als Armutslohn wird übrigens ein Entgelt definiert, dass weniger als 50% des nationalen Durchschnitteinkommens beträgt.

Die Berechnung des Existenzlohns am Beispiel des Asia Floor Wage

Der sogenannte Asia Floor Wage dient zur Berechnung des asiatischen Basis-Existenzlohns. Die hierfür verwendete, fiktive Währung nennt sich KKP (Kaufkraftparität). Sie basiert auf dem Konsum von Waren und Dienstleistungen und ermöglicht im asiatischen Raum den Vergleich von Lebensstandards über Ländergrenzen und deren jeweiligen nationalen Währungen hinweg.
Die Kalkulation basiert auf der Annahme, dass ein Haushalt entweder aus einer Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern oder einer erwachsenen Person mit vier Kindern besteht. Möglich sind aber auch drei Erwachsene ohne Kinder. Pro Haushalt ist jeweils genau eine erwachsene Person arbeitstätig.
50 Prozent des monatlichen Lohns dienen zur Versorgung mit Lebensmitteln. Jedem Erwachsenen stehen dabei täglich 3.000 Kalorien zu. Weitere 40 Prozent dienen zur Deckung der Ausgaben für Bekleidung, Wohnen, Mobilität sowie für die Bildung der Kinder. Die verbleibenden 10 Prozent stehen wiederum für die Rücklagenbildung, Unterhaltung sowie zur Vorsorge für Alter und Arbeitslosigkeit zur Verfügung.

Der Existenzlohn als grundlegendes Menschenrecht

Das Niveau des Mindestlohns in der Textil- und Bekleidungsbranche liegt zumeist weit unter dem Lohn, der für die Existenzsicherung nötig wäre. De facto stellt der Mindestlohn statt der Lohnuntergrenze häufig die Obergrenze dar. Teilweise müssen die Arbeiterinnen und Arbeiter sogar Überstunden ableisten, um auf die Höhe des Mindestlohns zu kommen. Und das, obwohl ein existenzsichernder Lohn ein Menschenrecht ist, dass für alle Menschen auf dieser Welt unabhängig ihrer Herkunft Gültigkeit besitzt.
Daher ist das Recht sowohl in Artikel 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, in verschiedenen Konventionen und Empfehlungen der Internationalen Arbeitsorganisation sowie in der EU-Sozialcharta wiederzufinden. So spricht beispielsweise die Europäische Sozialcharta (1961) in Artikel 4 von dem Recht „auf ein gerechtes Arbeitsentgelt, das einen angemessenen Lebensstandard sichert“.


Artikel 23 der UN-Menschenrechtscharta – das steckt drin
◦ Jeder Mensch hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf angemessene und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz gegen Arbeitslosigkeit.
◦ Alle Menschen haben ohne jede unterschiedliche Behandlung das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit.
◦ Jeder Mensch, der arbeitet, hat das Recht auf angemessene und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert und die, wenn nötig, durch andere soziale Schutzmaßnahmen zu ergänzen ist.
◦ Jeder Mensch hat das Recht, zum Schutze seiner Interessen Berufsvereinigungen zu bilden und solchen beizutreten.


„Made in Europe“ – Osteuropa als neue verlängerte Werkbank des Westens

Wer einen Blick auf die Etiketten seiner letzten Shoppingerrungenschaften wirft, könnte unter Umständen überrascht werden. Entgegen der Erwartung auf den Labels Herkunftsbezeichnungen wie „Made in China“ oder „Made in Bangladesch“ zu entdecken, tauchen hier nämlich immer häufiger die Namen osteuropäischer Länder als Produktionsstätten auf. Denn auch wenn es überraschend klingen mag, für bestimmte Unternehmen ist es mittlerweile tatsächlich wieder lohnenswerter, in europäischen Niedriglohnländern zu produzieren anstatt im asiatischen Raum.
Mit von der Partie der Begünstigten sind neben mittelgroßen Unternehmen auch die internationalen Modekonzerne, welche bekanntlich innerhalb kürzester Zeitspannen neue Kollektionen auf den Markt werfen. Für die globale Bekleidungsindustrie bieten die Länder Osteuropas verlockende Vorteile: die Nähe zu den westeuropäischen Märkten, eine langjährige Erfahrung im Bereich der Textilherstellung und somit großes branchenspezifisches Know-how, große Produktions- und Lieferkapazitäten sowie sehr geringe Arbeitskosten. So galten im Jahr 2013 sowohl in Bulgarien (139€), Rumänien (133€) als auch Mazedonien (111€) niedrigere gesetzliche Mindestlöhne als das für China (175€) der Fall war. In Moldawien (71€) und der Ukraine (80€) unterschritt die Höhe des Mindestlohns sogar jene Indonesiens (82€).

Wenn Arbeit zu Verarmung führt

Die Clean Clothes Campaign kommt in ihrem Report „Im Stich gelassen“ (2014) zu dem Schluss, dass in allen untersuchten Ländern eine große Kluft zwischen dem gesetzlichen Mindestlohn und dem geschätzten Basis-Existenzlohn herrscht. Die Einschätzung des Basis-Existenzlohns wurde über Gespräche mit den Arbeitnehmern der jeweiligen Länder ermittelt.
Dafür wurden die Beschäftigten zu ihren Haushaltsausgaben befragt. Die Lücke scheint in den osteuropäischen Billiglohnländern noch größer auszufallen als in den asiatischen. Die größte Differenz zeigt sich in der Slowakei. Während der geschätzte Existenzlohn bei einem Wert von 1.360€ liegt, beträgt der Mindestlohn gerade einmal knapp 300€. Hier fehlt den Befragten zufolge monatlich ein Betrag von mehr als 1.000€. An zweiter Stelle folgen Bulgarien mit einem geschätzten Differenzbetrag von circa 880€ sowie Mazedonien mit etwa 680€.

Die prekäre Situation der Frauen

Der Bekleidungssektor ist berüchtigt für seine schlechte Arbeitsentlohnung. Davon in einem besonderen Maße negativ betroffen ist jedoch vor allem das weibliche Geschlecht. Der Frauenanteil in der Branche liegt bei 80 bis 90%. Da Frauen in der Regel Tätigkeiten verrichten, die als „einfach“ angesehen werden, werden sie im Vergleich zu den männlichen Arbeitskräften nochmals deutlich schlechter entlohnt.
Zusätzlich verschärft wird die Situation der Arbeiterinnen dadurch, dass ihr Einkommen meist die einzige Einnahmequelle der gesamten Familie ist. Denn nicht selten sind die Frauen alleinerziehende Mütter oder ihre Ehemänner arbeitslos. So stellt ihr Arbeitsvertrag häufig auch die einzige Möglichkeit dar, an eine bezahlte Krankenversicherung für die eigene Familie zu kommen und damit Zugang zum Gesundheitssystem zu erhalten.

Die aktuelle Entwicklung lässt wenig Hoffnung auf Besserung

Die Untersuchung der Clean Clothes Campaign zeigt, dass auch heute – aller Informationskampagnen und öffentlicher Proteste zum Trotz – nach wie vor nur Hungerlöhne in der Textil- und Bekleidungsindustrie gezahlt werden. Tragische Vorkommnisse in asiatischen Ländern wie Bangladesch haben dazu beigetragen, dass Modeunternehmen ihre Produktion inzwischen wieder vermehrt in europäische Länder verlagern. Enttäuschenderweise wurden dabei auch direkt die menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen mitexportiert.
Ein Armutszeugnis für die Textilriesen, welchen eigentlich mehr als genug Geld zur Verfügung steht. Doch glücklicherweise stellt sich den Mode-Mogulen eine wachsende Zahl grüner Idealisten entgegen, die sich auf die Fahne geschrieben haben, die gesamte Branche auf den Kopf zu stellen.

Den gesamten Bericht der Clean Clothes Campaign könnt ihr hier nachlesen.

Für alle, die nicht so viel Zeit haben, gibt es hier die Kurzfassung.


Foto-Credits:
  • © GIBLEHO / Adobe Stock